Erklärung der Besetzer*innen:
Wir haben heute, am 6. Oktober 2018, die Berlichingenstraße 12 in Moabit besetzt, um das Haus den vielen Wohnungs- und Obdachlosen in dieser Stadt zur Verfügung zu stellen. Wir wollen nicht weiter zusehen, wie Menschen auf der Straße oder in Unterkünften mit beschissenen Verhältnissen leben müssen, während weiterhin Häuser leer stehen. Wir wollen ein Projekt schaffen in dem Wohnungssuchende zusammen leben können. Frei von den Zwängen und Kontrollen der etablierten Unterkünfte, in Selbstverwaltung und umsonst.
In Berlin sind weit über 10.000 Menschen obdachlos. Über 36.000 Wohnungslose waren 2017 in Unterkünften in teilweise menschenunwürdigen Zuständen mit strengen Hausregeln und ständiger Überwachung durch Mitarbeiter*innen untergebracht. Es gibt schlichtweg keine leistbaren Wohnungen mehr in der Stadt. Soziale Träger werden in der Konkurrenz um Gewerbeflächen zunehmend von besser zahlenden Unternehmen aus der Innenstadt verdrägt.
In dieser Gesellschaft ist Wohnraum eine Ware. Das bedeutet, dass Wohnraum gebaut und vermietet wird, um damit Rendite zu erwirtschaften. Daher stehen trotz akuter Wohnungsnot weiterhin Häuser leer, in Erwartung weiterer Spekulationsgewinne durch Wertsteigerungen. Es werden Luxusapartments gebaut, die sich die Masse der Wohnungssuchenden und wohnungs- oder obdachlose Menschen nicht leisten können, geschweige denn, dass sie im harten Konkurrenzkampf um Wohnraum eine Chance auf eine Wohnungszusage hätten. Die Stadt wird mit Shoppingcentern und Hotels zugeklatscht statt Wohnraum für alle zu schaffen. Schließlich ist der Profit und nicht die Bedürfnisse der Menschen maßgeblich für die kapitalistische Stadtplanung.
Und der rot-rot-grüne Senat? Er baut modulare Unterkünfte (sog. MUFs) und Container für arme Menschen. Das Recht auf eine eigene Wohnung wird durch die schlichte Unterbringung ersetzt.In Strategiekonferenzen sucht er nach Vorschlägen für eine bessere Verwaltung der Obdach- und Wohnungslosigkeit, um deren Abschaffung geht es ihm nicht. Gleichzeitig lässt der Staat weiterhin zwangsräumen, die landeseigenen Wohnungsbauunternehmen ihre Mieten erhöhen und Sozialwohnungen aus den Sozialbindungen fallen. So treibt auch diese Koalition immer mehr Menschen aus ihren Wohnungen auf die Straße. Die Cops und das Ordnungsamt schließlich räumen regelmäßig auf Befehl der Politik die Lager der obdachlosen Menschen wie im Tiergarten oder in der Hasenheide. Zeltstädte und andere Notbehausungen sollen aus dem Blickfeld verschwinden. Sie passen nicht in ein Stadtimage, das Investor*innen und Tourist*innen ein schickes und hippes Berlin frei von Armut verkaufen will. Dem politischen Ruf nach Sauberkeit und Ordnung folgend, sollen Plätze und Parks von der öffentlich sichtbaren Armut bereinigt werden.
Die Abwertung armer Menschen ist im Kapitalismus angelegt. Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel sucht die Schuld an der Armut bei den Betroffenen selbst. Von Dassel fordert in rassistischer Manier die Abschiebung von obdachlosen Menschen ohne deutschen Pass und leugnet den Zusammenhang zwischen extremer Ausbeutung und der zunehmenden Wohnungslosigkeit in der Stadt. Dabei schuften viele Wohnungslose ohne jegliche Absicherung und zu Hungerlöhnen auf den Baustellen dieser Stadt. Der Kapitalismus produziert zwangsläufig Ausbeutung, Armut und Wohnungsnot. Trotz noch nie dagewesenem gesellschaftlichen Reichtum steigt die Konkurrenz zwischen armen Menschen um die verbliebenen Reste des Sozialstaats. Im alltäglichen Kampf ‚Alle gegen Alle‘ ziehen Bewertungsmuster in die zwischenmenschliche Beziehungen ein, in denen Menschen nach ‚Nützlichkeit‘ sortiert und hierarchisiert werden. Wessen Arbeitskraft nicht als verwertbar gilt, der*die wird ausgegrenzt, abgeschoben, fertig gemacht. Die ständigen körperlichen Übergriffe auf obdachlose Menschen sind dabei der brutalste Ausdruck der gesellschaftlichen Kälte im Kapitalismus. Auch Rassismus spielt auch auf dem Wohnungsmarkt eine zentrale Rolle beim Ausschluss von Menschen. Ein ‚falscher‘ Nachname oder Aufenthaltstitel lässt die Chancen auf eine Wohnung deutlich sinken.
Dabei wäre eine solidarische Gesellschaft ohne Obdachlosigkeit, ohne Wohnungslosenunterkünfte und ohne Armut ohne weiteres möglich. Dahin kommen wir jedoch nur wenn wir unser Leben selbst in die Hand nehmen und für eine Ende des Kapitalismus kämpfen.
Konzept für das Haus:
Wir möchten das Haus für diejenigen öffnen, die von der Wohnungsnot am meisten betroffen sind. Wohnungslose Menschen und Geringverdienende. Priorität ist für uns Selbstverwaltung der Bewohner*innen und Handlungsfreiheit gegenüber dem Bezirk.
Am 31. Januar 2016 kündigte das „Gästehaus Moabit“ den dort untergebrachten 33 wohnungslosen Männern, die teilweise schon viele Jahre dort wohnten. Der Betreiber der Wohnungslosenunterkunft (Gästehaus Moabit) wurde vom Hauseigentümer beziehungsweise deren Hausverwaltung Berolina gekündigt. Berolina hatte das Haus angeblich zu einem fast dreimal höheren Preis ab März 2016 an Nikon vermietet, die vorwiegend Wohnheime für Geflüchtete betreiben. Der Verdacht, dass hier die Not von Geflüchteten gegen die Not von Obdachlosen ausgespielt wurde, liegt nahe.
Einige Bewohner fanden selbst neue Wohnungen, andere versuchten mit Hilfe des Bündnis „Zwangsräumung verhindern!“, sich zu wehren. Die Hausbesitzer reagierten, indem sie das Wasser abstellten. Im Winter war das Haus wochenlang ohne Heizung. Im Januar begann ein längerer Gerichtsprozess, der damit endete, dass der Räumungsklage im Juli 2017 stattgegeben wurde und die letzten Bewohner am 6. September 2017 geräumt wurden. Seitdem steht das Haus leer.
„Zwangsräumung verhindern!“ wies in einer Stellungnahme darauf hin, dass der Fall Berlichingenstraße zeigt, dass sich mit den Armen hervorragende Geschäfte machen lassen. Der Senat hätte das Haus kaufen und den Bewohner*innen überlassen können, anstatt dem Eigentümer monatlich 22.000 zu überweisen (so viel kostete das Haus).
Die Unterbringung von Menschen, die in dieser Gesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert werden, in modularen Unterkünften für Geflüchtete (MUFs), Hostels oder Sammelunterkünften befördert ihre soziale Isolation. Wir wollen, dass unterschiedliche soziale Gruppen in das Haus einziehen und nach ihren eigenen Vorstellungen leben können. Dies können Geflüchtete, obach- und wohnungslose Menschen (unabhängig davon ob sie Anspruch auf Unterbringung nach ASOG haben), Studierende und andere gering Verdienende sein. Wir finden eine feste Quotenregelung problematisch, können uns aber vorstellen die Zimmervergabe nach Richtwerten wie mindestens 50% an wohnungslose Menschen und maximal 30% an Studierende vorstellen. Wichtig ist, dass die Personen, die einziehen möchten, ein Mindestmaß an Interesse für Selbstverwaltung mitbringen sollten.
Für diejenigen, die in ihrem Alltag Unterstützung brauchen und wünschen soll eine Betreuung durch kritische Sozialarbeiter*innen angeboten werden, die ihre Arbeit an die Bedürfnisse der Bewohner*innen anpassen und diese mit Respekt behandeln.
Für unser Projekt soll eine Orientierung am „Housing First“-Ansatz gelten. Dies bedeutet, dass der Einzug nicht an schwer zu erfüllende Bedingungen – wie Cleansein oder „Wohnfähigkeit“ – geknüpft ist. Bei dem etablierten deutschen Modell gibt es eine hohe ‚Rückfallquote‘ und die Menschen fliegen bei Verstößen gegen die strikten Vorgaben aus den Projekten. Der „Housing First“-Ansatz hingegen geht davon aus, dass die Menschen erst mal eine Wohnung brauchen und auf dieser Grundlage eine sozialarbeiterische Unterstützung angeboten werden kann, soweit dies gewünscht wird. Zentral ist dabei, dass das Wohnen nicht zeitlich befristet ist.
Im Haus soll es einen Mix aus Einzelwohnungen für Menschen mit Bedarf nach Rückzug und Wohngemeinschaften geben. Für das Zusammenkommen sollen Gemeinschaftsflächen und ein gemeinsamer Garten entstehen. Eventuell werden hier Umbauarbeiten notwendig sein. Im Erdgeschoss wollen wir ein Kiezcafé einrichten, in dem wir einen Ort schaffen wollen, der sich über Veranstaltungen und Angebote für politische Organisierung in die Nachbarscaft öffnet. Wir verstehen unser Projekt als Schutzraum für alle Menschen, die in dieser Gesellschaft von Diskriminierung betroffen sind. Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Homo- oder Transphobie haben daher keinen Platz in unseren Räumen.
Um die Selbstbestimmung der Hausbewohner*innen zu ermöglichen, wäre eine Option einen Verein zu gründen, der in der Lage ist das Haus in Eigenverantwortung zu organisieren.
Trotz aller Ansprüche sehen wir die Widersprüche und Ambivalenzen, Menschen (durch sozialarbeiterische Ansätze) in Systeme integrieren zu wollen. Deswegen sei hier noch einmal betont, dass an erster Stelle die Freiwilligkeit, Respekt und Selbstbestimmung stehen sollen.